Forschung

Heimsuchung Mariens
Heimsuchung Mariens, Schottenaltar um 1470. Maria und Elisabeth auf der Kärntner Straße, im Hintergrund St. Stephan und St. Peter, © https://www.geschichtewiki.wien.gv.at/Datei:HeimsuchungMariens.jpg, Museum im Schottenstift

Verwandtschaftliche, wirtschaftliche und nachbarschaftliche Kontakte waren zentrale Elemente der Beziehungskultur in spätmittelalterlichen Städten. Sie wurden wechselseitig gefestigt, artikuliert und ausgebaut. Heiratsverbindungen dienten der Absicherung der eigenen sozialen Stellung. Verwandtschaftliche Vernetzungen fanden ihren Ausdruck u.a. in erbrechtlichen Vereinbarungen, wirtschaftlichen Transaktionen ebenso wie in Zuwendungen an geistliche Institutionen. Deren nachhaltiger Erfolg wiederum hing von der Bindekraft dieser Beziehungen ab: Wenn Stifter*innen ihre Vermögenswerte zur Verfügung stellten, brachten sie auch emotionale Nähe zum Ausdruck, bekräftigten soziale Verbindlichkeiten und erwarteten von den begünstigten geistlichen Gemeinschaften die Erbringung einer Gebetsleistung für ihr ewiges Andenken (memoria). Umgekehrt blieben sie mit dieser und mit der Gemeinschaft aller Stiftenden dauerhaft verbunden.

Hl. Thomas, Stifterin und Stifter
Hl. Thomas, Stifterin und Stifter, St. Pölten (NÖ), 1489/90, Diözesanmuseum St. Pölten. Foto: P. Böttcher/IMAREAL, REALonline Nr. 1464

Verwandtschaft, politische Ämter und Stiftungsgemeinschaften sind chronologisch und sozial verbindende Konstanten. Dasselbe gilt für die Kategorie Geschlecht. Die Überlieferung zu vielen europäischen Städten macht Bürgerinnen als geschäftsfähige Akteurinnen und gleichwertige Partnerinnen unterschiedlicher Rechtsgeschäfte sichtbar. Manche von ihnen kamen aus Familien, die im Stadtrat und in anderen wichtigen Funktionen vertreten waren, und setzten diese Beziehungen nicht zuletzt als Mitglieder und Funktionsträgerinnen in Klöstern fort. Hier wird die enge Verflechtung städtischer und geistlicher Kultur besonders deutlich. Familien- und Besitzverhältnisse waren mit politischen und religiösen Interessen verknüpft. Über diese komplexen sozialen Netzwerke ist für besonders gut dokumentierte Städte wie etwa Florenz bereits auf der Basis jahrzehntelanger Forschungen recht viel bekannt; v.a. wurden sie zunehmend mit neuen digitalen Methoden systematisch ausgewertet und auch visualisiert.

Stadtratssitzung in Wr. Neustadt (2. Hälfte 15. Jhdt.)
Stadtratssitzung in Wr. Neustadt (2. Hälfte 15. Jhdt.), Stadtmuseum Wr. Neustadt. Foto: P. Böttcher/IMAREAL, REALonline Nr. 1535

Zwar bieten mitteleuropäische Städte im Vergleich mit jenen in stärker urbanisierten Regionen des mittelalterlichen Europa deutlich weniger umfangreiches Quellenmaterial. Dennoch stellen das urkundliche Material und das Verwaltungsschriftgut auch dieser Städte eine gute Basis dar, um die hier aufgeworfenen Fragen zu beantworten. 

Für Wien kann die Überlieferungssituation ab der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts insgesamt als robust bezeichnet werden. Auch die stadtgeschichtliche Forschung hat in den vergangenen Jahrzehnten hervorragende Grundlagen sowohl zum städtischen Sozialgefüge Wiens als auch zu den Stadt-Umland-Beziehungen und zur urbanen Entwicklung im weiteren Donauraum geschaffen, wodurch die vorhandenen qualitativen Befunde um quantitative Erhebungen ergänzt und beide integriert werden können. Die grundlegenden Arbeiten von Otto Brunner, Leopold Sailer, Richard Perger u.a. zu Grundbesitz, Finanzen und Funktionen städtischer Eliten sind in den letzten Jahren durch netzwerkanalytische Ansätze verfeinert und durch neue Arbeiten zum Wiener Immobilienmarkt sowie zur spirituellen Ökonomie in der Stadt ergänzt worden. 

Netzwerkgrafik
Verwandtschafts- und Amtsverbindungen des geistlichen Personals der Rathauskapelle 1325–1379, erstellt mit ORA. Grafik: Herbert Krammer

Um die komplexen Relationen zwischen Gütergemeinschaften, Verwandtschaftsbeziehungen, Jenseitsökonomie und ihren Auswirkungen auf die Bildung von sozialen Gemeinschaftsformen systematisch nachzugehen, ist eine Erhebung prosopographischer Daten von personellen und institutionellen Akteuren auf breiter Basis notwendig. Dafür nutzen wir Methoden der digitalen Datenerhebung, sowie zu deren Auswertung Methoden der Sozialen Netzwerkanalyse (SNA). Die dichte sakrale Topographie des mittelalterlichen Wiens bietet dafür eine hervorragende Grundlage. Die ab dem 14. Jahrhundert stark zunehmende Überlieferung setzt sich aus urkundlichen Quellen und Verwaltungsquellen in sogenannten „Stadtbüchern“ zusammen, deren systematische Auswertung im Zentrum dieses Vorhabens steht.

Basierend auf zwei von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) und der Stadt Wien geförderten Pilotprojekten (Stadt und Gemeinschaft, 2017/18; Soziale Netzwerke im spätmittelalterlichen Wien, 2020/21) erfassen wir den Bestand der Quellen zur Geschichte der Stadt Wien (QGStW) sowie sog. Wiener Stadtbücher (1395-1430) systematisch in Hinblick auf Verwandtschaft- und Geschlechterbeziehungen, Gütergemeinschaften und Jenseitsökonomie. Das Projekt verknüpft Prosopographie, Soziale Netzwerkanalyse und Digital Humanities und leistet so zudem für zentrale Quellenbestände zur Geschichte Wiens einen Beitrag zur Optimierung der factoid prosopography. Denn das Interesse richtet sich nicht allein auf die Quellen, sondern auf die aus ihnen aggregierten Informationen und deren Verknüpfungsmöglichkeiten.